Der EVU-Atlas von YouGov Schweiz - Wie Wahrnehmungen, Marktmechanismen und Erwartungshaltungen die Energiebranche in der Schweiz prägen
In der Schweizer Energiewirtschaft verändert sich zurzeit vieles – insbesondere auch das Verhältnis zwischen den Energieversorgern (EVU) und ihren Kundinnen und Kunden wandelt sich spürbar. Die vergangenen Jahre waren geprägt von Preissteigerungen, geopolitischen Spannungen, Diskussionen über Versorgungssicherheit und einer erneuten Verschärfung der Debatte um die vollständige Marktöffnung. Diese Entwicklungen haben nicht nur die mediale Aufmerksamkeit für die Branche verstärkt, sondern auch die Erwartungen und Sensibilitäten der Bevölkerung verändert. Viele Kundinnen und Kunden setzen sich heute bewusster mit der Stromrechnung auseinander, hinterfragen Preismechanismen, achten verstärkt auf regionale Verankerung und reagieren sensibler auf Service- und Kommunikationsleistungen.
Gleichzeitig sind die tatsächlichen Wahlmöglichkeiten weiterhin eingeschränkt: Obwohl Unternehmen schon länger frei wählen können, bleibt der Privatkundenmarkt geschlossen. Die meisten Menschen kennen deshalb nur ihren lokalen Anbieter – und die Marktlogik, die aus Wahlfreiheit entsteht, ist ihnen fremd. Dahinter verbirgt sich ein Spannungsfeld, das in der öffentlichen Debatte oft unterschätzt wird: Die Bevölkerung hat klare Erwartungen und Einstellungen, aber kaum Möglichkeiten, sie in ein konkretes Wahlverhalten umzusetzen. Genau hier setzt der EVU-Marktatlas von YouGov Schweiz an, eine dreiteilige Studienreihe aus den Jahren 2021, 2023 und 2025, die systematisch untersucht, wie Schweizerinnen und Schweizer ihre Energieversorger wahrnehmen, wie sich diese Wahrnehmung verändert hat und welche Faktoren darüber entscheiden, ob ein Energieversorgungsunternehmen (EVU) überhaupt als Option infrage kommt.
Die Befragungen umfassen insgesamt über 18’000 Personen aus der Deutsch- und Westschweiz und decken die Wahrnehmung der 29 grössten EVU ab. Erhoben wurden gestützte Markenbekanntheit, Wahrnehmung der Regionalität, der Preis-Leistung, die Zufriedenheit mit dem eigenen Anbieter, die hypothetische Wechselbereitschaft sowie die Consideration, also ob ein EVU grundsätzlich für den Wechsel infrage käme. Diese Kombination ermöglicht nicht nur eine differenzierte Betrachtung einzelner EVU, sondern erlaubt es auch, weitergehende Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung, Verhalten und Marktstruktur zu erkennen.
Wahrnehmung der EVU: stabile Grundmuster, unterschiedliche Dynamiken
Eine zentrale Erkenntnis der Studienreihe besteht darin, dass die Markenbekanntheit in der Schweiz über die Zeit bemerkenswert stabil bleibt. Trotz der grossen öffentlichen Aufmerksamkeit für Energiefragen seit 2022 sind die Bekanntheitswerte nicht generell gestiegen. Die mentale Präsenz folgt vielmehr klar der Struktur der Stromversorgung: grosse, nationale Anbieter wie Axpo oder Alpiq sind weiterhin am bekanntesten, obwohl sie im Privatkundenmarkt nicht aktiv sind. Die BKW erreicht ebenfalls hohe Werte und bleibt in vielen Regionen eine der sichtbarsten Marken im Markt. Regionale EVU wie EKZ, IWB oder CKW verfügen über solide Sichtbarkeit in ihren Versorgungsgebieten, während kleinere Anbieter stärker lokal begrenzt bleiben.
Gleichzeitig zeigt die Studie, dass Kommunikationsmassnahmen, Investitionen in Präsenz oder geografische Expansion durchaus wirksam sind. Anbieter wie CKW, Groupe E oder Primeo Energie konnten ihre Bekanntheit im Zeitverlauf messbar steigern. Dieses Muster verdeutlicht, dass Bekanntheit trotz ihrer Stabilität ein beeinflussbarer Faktor bleibt – allerdings mit hohem Ressourceneinsatz und eher langfristiger Wirkung.

Grafik 1: Gestützte Markenbekanntheit 2025 und Netto-Veränderung gegenüber 2021.
Während die Bekanntheit vor allem eine Frage der Marktgrösse und historischen Präsenz ist, ist die Wahrnehmung der Regionalität stärker identitätsbezogen. Sie beruht auf dem Gefühl der Kundschaft, dass ihr Anbieter in der Region verankert ist und lokale Wertschöpfung, Nähe und Solidarität verkörpert. Diese Dimension bleibt für viele Schweizerinnen und Schweizer ein entscheidender emotionaler Anker. Anbieter wie die SAK, Elektra Baselland oder EKS Schaffhausen geniessen im Schnitt über die Jahre sehr hohe Werte von über 60 Prozent Zustimmung unter ihren Kennerinnen und Kennern. Auch die St. Galler Stadtwerke, IWB, Stadtwerk Winterthur und WWZ bewegen sich auf hohem Niveau.
Am unteren Ende der Skala liegen erwartungsgemäss die grossen nationalen Anbieter, deren Wahrnehmung als regional strukturell tief bleibt. Besonders interessant ist jedoch die hohe Volatilität in der Westschweiz. Dort verloren Anbieter wie SIG, SIL oder Romande Energie im Jahr 2023 stark an Regionalitätswahrnehmung, bevor sie 2025 eine gewisse Erholung verzeichneten. Diese Dynamik zeigt, wie eng Wahrnehmung und politische Diskussion in der Westschweiz verflochten sind und wie sensibel Kundinnen und Kunden dort auf Preis- und Versorgungsthemen reagieren.
Noch beweglicher als die Regionalität ist der Eindruck der Preis-Leistung. Die Werte zeigen zwischen 2023 und 2025 deutliche Verschiebungen. Anbieter wie SAK, WWZ oder Energie Service Biel erreichen 2025 hohe Zustimmungswerte zwischen rund 36 Prozent. Neben Energie Service Biel konnten insbesondere die beiden Tessiner EVU Società Elettrica Sopracenerina und AIL hier ihre Wahrnehmung deutlich verbessern. Nationale EVU bleiben auch hier tief, was zeigt, dass die Bevölkerung sie nur selten als preislich attraktiv wahrnimmt.
Die drei Wahrnehmungsdimensionen – Bekanntheit, Regionalität und Preis-Leistung – bilden eine wichtige mentale Grundlage für das Entscheidungsverhalten der Bevölkerung, auch wenn daneben natürlich weitere Faktoren eine Rolle spielen. Dass sie sich unterschiedlich stark bewegen, aber langfristig stabil strukturiert bleiben, ist ein wichtiges Ergebnis. Es zeigt, welche Faktoren sich über Kommunikation beeinflussen lassen und welche stärker von historischen oder geografischen Gegebenheiten abhängen.
Wie Entscheidungen entstehen: Die Treiber der Consideration
Die zentrale Frage aus Sicht der EVU lautet jedoch nicht nur, wie sie wahrgenommen werden, sondern vor allem, ob sie überhaupt in die engere Wahl kommen. Um diese Mechanik zu verstehen, wurde ein logistisches Mehrebenenmodell geschätzt. Es erlaubt die statistisch saubere Analyse der Auswahlentscheidungen bei wiederholten Bewertungen pro Person, und es nutzt die grossen Stichproben von 2021 und 2023 als robuste Grundlage. Der geringeren Fallzahl von 2025 kommt ergänzender Charakter zu; die zentralen Effekte sind bereits zuvor stabil nachweisbar.
Die Bekanntheit erscheint im Modell mit einem extrem starken Effekt. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie ein eigentlicher Leistungstreiber wäre, sondern dass sie eine logische Grundvoraussetzung darstellt: Ein EVU kann nur in die engere Wahl kommen, wenn man es kennt[1]. Deutlich spannender sind die beiden gestaltbaren Treiber: Preis-Leistung und Regionalität. Preis-Leistung ist der stärkste funktionale Einflussfaktor im Modell. Wird ein EVU als preislich attraktiv wahrgenommen, steigt die Wahrscheinlichkeit für Consideration erheblich. Der Effekt ist nicht nur statistisch hochsignifikant, sondern auch inhaltlich gut begründbar – insbesondere angesichts steigender Energiepreise und wachsender Kostensensibilität der Bevölkerung.
Regionalität wirkt weniger stark, aber dennoch klar und robust. Ein als regional verankert wahrgenommenes EVU hat rund fünfmal höhere Chancen, in die engere Wahl zu kommen. Dieser Effekt zeigt eindrücklich, dass Regionalität weit mehr als ein sentimentales Attribut ist. Sie dient als Vertrauensanker in einem Markt, der im Alltag und im medialen Diskurs oft abstrakt bleibt.

Grafik Odds Ratios der drei KPI im Mixed-Effects-Modell.
Hinzu kommt ein leicht negativer Zeittrend: Zwischen 2021 und 2025 nimmt die Bereitschaft, EVU in die engere Wahl einzubeziehen, etwas ab. Diese Entwicklung lässt sich vorsichtig mit der Unsicherheit und Komplexität des Marktes erklären. Während 2021 die Energiepreise vergleichsweise stabil waren, führten die geopolitischen Spannungen und die Strompreisdebatte 2022/23 zu Verunsicherung und Skepsis. Diese Haltung scheint die generelle Offenheit gegenüber Alternativen zu dämpfen.
Es existieren darüber hinaus einige relevante Subgruppenunterschiede. So zeigen die Daten, dass ländliche Bevölkerung stärker zur Wahl von EVU tendiert, die regional tief verankert sind, während in Städten überregionale Anbieter häufiger in Erwägung gezogen werden. Männer beurteilen nationale Anbieter signifikant häufiger als mögliche Option als Frauen; ein Muster, das vermutlich mit technischer Affinität und subjektiver Zuschreibung zusammenhängt. Diese Unterschiede verändern die Gesamtlogik nicht, zeigen aber, dass zielgruppenspezifische Strategien durchaus wirksam sein können.
Zufriedenheit und Wechselbereitschaft: Ein ruhiger Markt – vorerst
Neben den markenspezifischen Wahrnehmungen liefert die Studie von YouGov Schweiz wichtige Erkenntnisse über die Stimmung in der Bevölkerung. Die Zufriedenheit mit dem eigenen EVU wurde auf einer Skala von 1 bis 10 erhoben. Die Werte zeigen eine klare, aber moderate Verschiebung: 2021 lag der Durchschnitt noch bei 7.9, sank im Zuge der Energiepreiskrise auf 7.3 und stieg 2025 leicht auf 7.5. Auch wenn diese Werte nicht auf eine fundamentale Krise hindeuten, zeigen sie doch, dass das Vertrauen in die Branche nicht völlig resistent gegenüber externen Schocks ist.
Die regionale Perspektive macht das Bild deutlicher. In der Westschweiz liegt der Anteil der klar Unzufriedenen bei 8 Prozent – fast dreimal so hoch wie in der Deutschschweiz. Dieser Unterschied ist signifikant und inhaltlich plausibel: In der Westschweiz war die öffentliche Debatte rund um Energiepreise, Marktmechanismen und Energiepolitik in den vergangenen Jahren stärker emotionalisiert und politisiert als in der Deutschschweiz.
Noch aufschlussreicher ist die hypothetische Wechselbereitschaft. Obwohl Privatkundinnen und Kunden ihren Anbieter nicht frei wählen können, steigt die Bereitschaft in einem hypothetischen Szenario kontinuierlich: 2021 wären rund 10 Prozent sicher gewechselt, 2023 bereits 15 Prozent, und 2025 mit 17 Prozent nochmals leicht mehr. Das entspricht heute jeder sechsten Person. Knapp die Hälfte ist unentschlossen, während ein Drittel ein niedriges Wechselrisiko aufweist.
Besonders bemerkenswert ist die paradoxe Situation in der Westschweiz: Dort ist die Unzufriedenheit höher, gleichzeitig aber auch der Anteil Personen mit sehr tiefem Wechselrisiko signifikant grösser (40 Prozent gegenüber 33 Prozent in der Deutschschweiz). Diese Kombination ist typisch für regulierte Märkte, in denen Menschen zwar Einstellungen äussern, aber keine echte Wahlpraxis entwickeln. Die Haltung wird dadurch stabiler, aber nicht zwangsläufig positiver. Erhält die Bevölkerung plötzlich Wahlfreiheit, können solche Märkte abrupt in Bewegung geraten.


Grafiken Zufriedenheit und hypothetische Wechselbereitschaft nach Region 2021, 2023 und 2025. Grüne/rote Umrahmungen bedeuten eine signifikante Veränderung gegenüber der Vorwelle.
Implikationen für EVU: Drei strategische Hebel für die kommenden Jahre
Die Studienreihe zeigt ein einheitliches Bild darüber, was die Wahl eines EVU tatsächlich antreibt – aber sie zeigt gleichzeitig, dass sich Wahrnehmung und Verhalten in absehbarer Zeit schneller verändern könnten als bisher. Für EVU ergeben sich daraus drei zentrale strategische Handlungsfelder.
Der erste Hebel ist die Preis-Leistung. Die Daten belegen eindeutig, dass Preis-Leistung ein starker gestaltbarer Treiber der Consideration ist. EVU sollten ihre Tarifpolitik, Preisstruktur und Kommunikationsstrategie konsequent überprüfen. Eine transparente Darstellung der Kosten, das Vorwegnehmen von Tarifänderungen, das Erklären von Preisbestandteilen und die aktive Platzierung nachvollziehbarer Argumente schaffen Vertrauen. Besonders überregionale Anbieter sollten stärker erklären, wofür Kundinnen und Kunden bezahlen, weil sie gegenüber regionalen EVU einen strukturellen Erklärungsnachteil haben.
Der zweite Hebel ist die regionale Verankerung. Hier lohnt sich eine langfristige Strategie, die sich nicht auf klassische Gemeindesponsoring-Projekte beschränkt, sondern neue Formen der Nähe schafft. Dazu gehören lokale Energielösungen, Servicezentren, dezentrale Kundennähe oder wirkungsvolle Kommunikationsformate, die Regionalität nicht nur behaupten, sondern erlebbar machen.
Der dritte Hebel betrifft die Kundenbindung, und zwar differenziert nach Regionen. In der Deutschschweiz ist die hypothetische Wechselbereitschaft höher, sodass EVU dort stärker auf Servicequalität, Reaktionsgeschwindigkeit und bereichsübergreifende Kundenerlebnisse setzen sollten. In der Westschweiz ist dagegen das Risiko eines plötzlichen Wechselschubs im Fall einer Marktöffnung grösser. Dort lohnt sich eine stille, aber konsequente Stärkung der Beziehung, bevor die Wahlfreiheit Realität wird.
Ausblick: Ein möglicher „Brand Shock“ und die Frage nach der Zukunft
Die Studienreihe von YouGov Schweiz erlaubt eine klare Schlussfolgerung. Der Schweizer Stromkunde von morgen wird wählerischer, informierter und anspruchsvoller sein als der Kunde von gestern. Seine Einstellungen verändern sich bereits heute – auch ohne Wahlfreiheit. Sollte eine Marktöffnung erfolgen, wird der Wettbewerb voraussichtlich intensiver ausfallen, als es die heutige Lage vermuten lässt. Besonders in der Westschweiz könnte sich über Jahre angestaute Unzufriedenheit plötzlich in reales Verhalten übersetzen.
Die Branche steht damit vor der Frage, wie sie diese Zukunft gestalten möchte. EVU, die in Bekanntheit und eine klare, stringente Kommunikation und Imagepflege investieren, schaffen die Grundlagen für stabile, vertrauensbasierte Kundenbeziehungen. Sie stärken nicht nur kurzfristige Zufriedenheit, sondern auch langfristige Marktpositionen. Wer dagegen auf die historische Stabilität der Kundenbeziehungen vertraut, riskiert, im Fall einer Marktöffnung von dynamischeren Wettbewerbern überrascht zu werden.
Die Frage, wem der Stromkunde von morgen gehört, lässt sich daher präzise beantworten: Er gehört den EVU, die heute in Wahrnehmung, Transparenz und Nähe investieren.
[1] Würde die Bekanntheit im Modell fehlen, würden unbekannte und bekannte EVU rechnerisch gleichbehandelt, was die Effekte von Preis-Leistung und Regionalität künstlich verstärken würde. Nur durch die Berücksichtigung der Bekanntheit lassen sich diese Einflussfaktoren realistisch und unverzerrt schätzen.











