Ein Kommentar von Holger Geißler zum ESC-Vorentscheid 2015.
Ich bin bekennender Fan des Eurovision Song Contests. Und ich war bis zum vergangenen Donnerstag auch Fan von Andreas Kümmert. Ich hatte im Dezember 2013 für ihn angerufen, damit er „The Voice of Germany“ wurde. Und ich hätte am Donnerstag für ihn angerufen, wenn ich den deutschen Vorentscheid des ESC nicht zeitversetzt angeschaut hätte. Und hätte mich damit noch mehr geärgert als ich das ohnehin schon tue.
79 Prozent aller Anrufe und SMS entfielen auf seinen Finalsong, nur 21 Prozent riefen für die Finalgegnerin Ann-Sophie an. Doch dann die große Überraschung: Nein, er wird nicht zum ESC nach Wien fahren und die deutschen Farben vertreten. Er sei ja nur „ein kleiner Sänger“. Einen „Coitus interruptus“ nannte das die Moderatorin. Das ist sicher richtig, aber eigentlich ist das vor allem eine Ohrfeige für alle, die Andreas Kümmert ihre Stimme gegeben haben.
Wie ein verlorener Held
Man stelle sich das in einem Wahlkampf vor. Über Monate kämpft der Kandidat um den Sieg. Und dann, im Moment des Triumphs, fällt ihm ein: „Ich habe mir das jetzt doch anders überlegt“. Manfred Hinrich sagte einmal: „Wahlen: um die Wette donnern und dann nicht blitzen.“ Noch nie folgte die Enttäuschung bei einer Wahl so schnell wie beim deutschen ESC-Vorausscheid 2015.
Für viele Medien ist Andreas Kümmert jetzt so etwas wie ein verlorener Held, der im Moment des Siegs die Größe hat seinen Fehler der Teilnahme einzugestehen, abzulehnen und dadurch eine neue Art von Männlichkeit zu definieren. „Dem Rollenmodell des Mannes in der Krise verschafft seine Verweigerung gesellschaftliche Akzeptanz“, schreibt Stefan Kuzmany auf Spiegel Online. Frank Olbert meint im Kölner Stadtanzeiger: „Der Abend des Vorentscheids war ein in dieser so wunderbar geschmeidig funktionierenden Zeit einmal ein überraschendes und auch erfrischendes Bekenntnis zu Unsicherheit, Zweifeln und Skrupeln“.
Andere mögen das so sehen, ich bin da komplett anderer Meinung. Wer sich zur Wahl stellt, muss auch damit rechnen gewählt zu werden. Und vor allem dann, wenn man in der Vergangenheit schon einmal eine Wahl gewonnen hat, wie Andreas Kümmert, was ihn von vornherein zu einem Favoriten gemacht hatte. Wie eine YouGov-Umfrage vom Wochenende zeigt, kannten ihn immerhin im Vorfeld der Show viermal so viele Deutsche (24 Prozent) wie die zweitplatzierte Ann-Sophie (6 Prozent). Und der Sieger sollte dann die Wahl auch annehmen.
Besser erst gar nicht zur Wahl stellen
Oder sich besser erst gar nicht zur Wahl stellen. Nichts gegen Skrupel und Zweifel, aber kann Andreas Kümmert die nicht etwas früher bekommen? Idealerweise bereits vor seiner Bewerbung. Immer noch vertretbar wäre nach der ersten Runde gewesen, bei der aus acht Teilnehmern vier Halbfinalisten gewählt wurden. Aber nicht erst im Finale. Die Frage ist doch: Wen hätten die 79 Prozent der Stimmen für Kümmert gewählt, wenn dieser bereits vor dem Finale seinen Verzicht erklärt hätte?
Leider hat der NDR die Stimmanteile der ersten Runde nicht veröffentlicht, aber man kann davon ausgehen, dass ein Finale ohne Kümmert nicht automatisch ein Sieg für Ann-Sophie gewesen wäre. Viel wahrscheinlicher ist es, dass eine der beiden Halbfinalistinnen Alexa Feser oder Laing letztlich die Nase vorne gehabt hätten. Aber sei‘s drum: 39 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass Ann-Sophie nach Wien fahren soll. Lediglich 19 Prozent wären für die Wiederholung der Show, die laut NDR ohnehin nicht so kurzfristig wiederholbar wäre.
So kennt der diesjährige deutsche Vorausscheid außer Andreas Kümmert, dessen Album in den iTunes-Charts vom 7. März mittlerweile auf Platz 2 rangiert, erstmal nur Verlierer: Die Fans, die für Andreas Kümmert angerufen haben; die zweitplatzierte Ann-Sophie, die ohne Legitimation und Rückhalt nach Wien fährt; Deutschland beim ESC, das ohne seinen gewählten Vertreter antreten wird.
Holger Geißler ist seit 2008 Mitglied des YouGov-Vorstands und unterrichtet seit 2011 außerdem Marktforschung als Dozent an der Fachhochschule Köln.
Bild: dpa