Deutsche überschätzen Einfluss der EU, teilweise deutlich

Dezember 28, 2016, 3:28 nachm. GMT+0

Was der französische Präsident der Europäischen Kommission Jacques Delors 1988 prognostiziert hatte, ist nicht eingetreten, sondern hat sich zum 80-Prozent Mythos entwickelt.

Brüsseler Bürokraten regieren entmündigte Deutsche, so etwa funktioniert die Erzählung nicht nur an deutschen Stammtischen, sondern bei vielen Deutschen. Politikwissenschaftler haben immer wieder darauf hingewiesen, dass das nicht stimmt. Eine aktuelle Studie zeigt, dass auch in anderen Bereichen die Wahrnehmung in der Bevölkerung häufig nicht mit der Realität übereinstimmt. Das Gleiche gilt für die Wahrnehmung des Einflusses der EU. Umfragedaten von YouGov zeigen, wie groß die Kluft zwischen dem tatsächlichen Einfluss der EU auf die Gesetzgebung und der Wahrnehmung ihres Einflusses in der Bevölkerung ist.

Soviel Einfluss hat die EU

Die Politikwissenschaftlerin Annette Elisabeth Töller von der Fernuni Hagen hat untersucht, wie stark der Einfluss der EU auf die Politik in Deutschland ist. Die Wissenschaftlerin hat dabei mit einer Auswertung des Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentarische Vorgänge des Bundestags (DIP) für die letzte Wahlperiode (2009-2013) ermittelt, „wie hoch der Anteil der Gesetze war, die (auch) europäische Vorgaben umgesetzt haben“. Das DIP veröffentlicht das parlamentarische Geschehen in Bundesrat und Bundestag. 7 Prozent der Gesetze im Bereich der sozialen Sicherung, 21 Prozent der Gesetzgebung zu Steuern und öffentlichen Finanzen und 57 Prozent der Wirtschaftsgesetzgebung sind demnach von der EU beeinflusst.

Mittelt man die von Töller errechneten Werte, werden 36 Prozent aller Gesetze durch die EU beeinflusst. Und auch wenn Töller daraufhin weist, dass die EU auch auf andere Weise Einfluss nehmen kann und ihre Daten daher den Einfluss der EU „nur näherungsweise“ abbilden, ist die Gesetzgebung doch der Kernbereich der parlamentarischen Politik.

Der 80 Prozent Mythos - Kluft zwischen gemessenem und geschätztem allgemeinem Einfluss

Selbst wenn die Werte bei anderer Messung etwas höher wären, wären sie – immer noch - weit entfernt von dem, was der französische Politiker und Präsident der Europäischen Kommission 1988 Jacques Delors prognostiziert hatte: „In zehn Jahren werden 80 Prozent der Wirtschafts-Gesetzgebung, und vielleicht auch der Steuer- und Sozialfragen, von der Europäischen Gemeinschaft geregelt werden“. Seither wurde von Europaskeptikern immer wieder diese Zahl verbreitet und so ein Mythos geschaffen, offenbar erfolgreich.

Laut einer YouGov-Umfrage sagt eine große Mehrheit von 74 Prozent der befragten Deutschen, dass die EU einen eher großen oder sehr Einfluss auf die deutsche Politik hat. Nur 17 Prozent sagen die Europäische Union habe einen "kleinen" Einfluss auf die deutsche Politik und nur 2 Prozent sagen die EU hat keinen Einfluss. Dem tatsächlichen oder zumindest gemessenen Einfluss der EU steht also eine Wahrnehmung des Einflusses der EU in der Bevölkerung gegenüber, die diesen deutlich überschätzt.

In einzelnen Politikfeldern wird der Einfluss der EU stärker überschätzt

Dieses Muster setzt sich auch fort, wenn man fragt, ob die EU Einfluss in den einzelnen Politikbereichen hat und wie stark er ist. In allen Politikbereichen wird hier von den Befragten ein Einfluss zwischen 82 Prozent (Soziale Sicherung) und 88 Prozent (etwa bei der Wirtschaftspolitik) wahrgenommen. Nur wenige sagen für jeden Politikbereich, dass die EU keinen Einfluss hat.

Offenbar ist die Frage wie stark der Einfluss der EU ist, bzw. die Antworten, die einen starken Einfluss vermuten, ein besserer Indikator für den wahrgenommenen Einfluss der EU in den einzelnen Politikfeldern. Hier zeigen sich je nach Politikfeld deutlichere Unterschiede.

Im Bereich der sozialen Sicherung nehmen drei von zehn Deutschen einen großen Einfluss der EU war (29 Prozent). Bei den öffentlichen Finanzen und in der Steuerpolitik sagen 47 Prozent die EU habe großen Einfluss und bei Wirtschaftspolitik sagen, dass 70 Prozent der Deutschen.

Wenn man diese Werte mit denen der Politikwissenschaftlerin Töller vergleicht zeigt sich: In fast allen Politikfeldern (außer Verkehr) wird der Einfluss der EU überschätzt. Doch der Abstand ist unterschiedlich groß. In der Hälfte der Politikfelder liegen die Zahlen von Töller nur wenige bis 10 Prozentpunkte unter dem, was die Deutschen schätzen. Die Befragten schätzen etwa bei Arbeit und Beschäftigung, oder in der Gesundheitspolitik den Einfluss der EU „insgesamt erstaunlich gut“ ein, sagt Töller gegenüber YouGov.

Doch vor allem in den Bereichen Soziale Sicherung, Innere Sicherheit, Öffentliche Finanzen, Wirtschaft und Energie wird der tatsächliche Einfluss „deutlich überschätzt“ bemerkt Töller.

Es fällt ins Auge, dass die Felder, wo der Einfluss stärker überschätzt wird, die sind, über die in den letzten Monaten im Zuge der griechischen Staatsschuldenkrise, der Flüchtlingskrise und des Brexit verstärkt berichtet wurde.

Nur in zwei Politikbereichen wird der Einfluss der EU unterschätzt. Das sind Bildung und Erziehung sowie der Bereich Verkehr. Über diese Themen wurde - vielleicht mit Ausnahme von gelegentlicher Berichterstattung über die PKW-Maut in Deutschland - in letzter Zeit wenig berichtet. Um diese Vermutung zu belegen, müssten hier jedoch die Daten über den Umfang der Berichterstattung zu bestimmten Politikfeldern mit dem wahrgenommenen Einfluss der EU verglichen werden.

Wie aussagekräftig sind die Daten?

Neben der Nicht-Berücksichtigung anderer Formen der Einflussnahme (indirekte oder diskursive Einflussnahme etwa), die Töller selbst anspricht, stellt sich eine andere Frage zum gemessenen Einfluss der EU: Sind die Daten noch aktuell? Ist der (gemessene) Einfluss der EU auf die nationale Gesetzgebung in den letzten drei Jahren gestiegen und tatsächlich näher an den Zahlen des geschätzten Einflusses?

Eine Antwort auf diese Frage werden wir Ende nächsten Jahres bekommen. Dann wird Töller für die letzte Wahlperiode Periode von 2013 bis 2017 erneut Daten zum Einfluss der EU erhoben haben. Doch vermutlich wird der Einfluss der EU zwischen 2013 und 2016 nicht in größerem Ausmaß gestiegen sein.

Zum einen, weil in den letzten Jahren eine weitere politische Integration der europäischen Union nicht mehrheitsfähig war (eher das Gegenteil). Zum anderen deuten auch Töllers eigene Daten aus der Vergangenheit darauf hin. Sie hat auch den Einfluss der EU auf die Gesetzgebung für die Jahre 1983 bis 2005 untersucht – und kam zu einem ähnlichen Wert wie 2014.

Auf Basis des YouGov Omnibus wurden in Deutschland 1049 Personen im Zeitraum vom 16. bis 20. September 2016 repräsentativ befragt.