Überwiegend vegan: Flexibilität kommt vor Konsequenz

Holger GeißlerBis Dezember 2017 Head of Research bei YouGov Deutschland
Juni 22, 2015, 3:28 nachm. GMT+0

Ein Artikel von Holger Geißler und Catherine-Thérèse Keller

Vegan liegt im Trend: Die Studie „Wer will‘s schon vegan?“ von YouGov aus dem Jahr 2014 zeigt, dass bereits 12 Prozent der Deutschen sich vegetarisch oder vegan ernähren. Das sind drei Prozentpunkte mehr, als noch im Jahr 2012 (Statistia, 2015 [1]). Es ist zu erwarten, dass sich diese Entwicklung weiter fortsetzt: Langfristig werden sich mehr Menschen häufiger vegan ernähren.

Warum verzichtet man überhaupt freiwillig auf den Verzehr von Fleisch, Milchprodukten und Ei? Sind diese Nahrungsmittel nicht kulturell untrennbar in unserer Gesellschaft verankert? Die Kernmotivatoren für Veganer sind ganz klar ethische Gründe, aber auch eine bewusste und gesunde Ernährungsweise sowie der Umweltschutz spielen eine wichtige Rolle [2]. Interessant dabei ist, dass sich von allen Veganern in Deutschland, lediglich 60 Prozent konsequent an diesen Ernährungsstil halten [2].

Veganismus als Selbstmedikation

Was ist nun mit den anderen 40 Prozent? Viele der „Neu-Veganer“ lassen sich eher den Flexi- (auch Teilzeit- oder Lifestyle-Veganern) zuordnen. Das Wohl der Tiere ist eher ein positiver Nebeneffekt als das Hauptmotiv für den veganen Ernährungsstil. In erster Linie geht es darum, die eigene Gesundheit zu verbessern oder etwas Gewicht zu reduzieren, sowie das Entdecken einer neuen Vielfalt an Nahrungsmitteln [3]. Nicht selten liest man in den zahlreichen veganen Blogs wie sehr sich doch die Haut verbessert hat, dass man seither keine Bauchschmerzen mehr habe oder sogar die Gicht gestoppt werden konnte. Die vegane Ernährung wird also quasi als Selbstmedikation eingesetzt.

Man könnte sich fragen, wozu man sich dann das Label Vegan auferlegt, wenn man doch nicht konsequent dabei ist? Viele konsequente Veganer verurteilen Flexi-Veganer als unechte Veganer, werfen ihnen Mängel in Ethik und Moral vor. Ähnliches muss sich im Übrigen der Vegetarier auch schon seit Jahren anhören.

Veganismus als Lifestyle

Eine Vermutung wäre, dass Flexi-Veganer bei bestimmten kulturellen Ereignissen oder kulinarischen Angeboten nicht verzichten möchten - oder können. So möchte manch einer wohl nicht ein Stück des, von der Großmutter liebevoll zubereiteten, Kuchens ablehnen müssen. Also ernährt man sich im Alltag vegan, in Restaurants oder bei Festen sind dann Ausnahmen erlaubt. Diese Gruppe könnte man auch als Home-Vegans bezeichnen. Doch haben wir noch nicht geklärt, wozu es des Labels Vegan für diese Gruppe bedarf. Möglicherweise ist es die Freikarte bestimmte Lebensmittel von Anfang an ablehnen zu dürfen, ohne jemanden vor den Kopf stoßen zu müssen.

Ein Beispiel für einen Lifestyle-Veganer ist Attila Hildmann, der auch gerne als der deutsche Vegan-Papst bezeichnet wird. Obwohl er in seiner Ernährung konsequent vegan ist, trägt er Lederschuhe und legt Wert auf Ledersitze in seinem Porsche.

So oder so, Fakt ist, dass die Durchdringung des veganen Lifestyles, nicht zuletzt auch durch Medienfiguren wir Attila Hildmann, in der Gesellschaft insgesamt zu einer erhöhten Sensibilität für Tierwohl und Gesundheit führt. Selbst Menschen, die sich fleischhaltig ernähren, entscheiden sich wohl zunehmend häufiger auch mal für die fleischlose Alternative. So zeigt die YouGov-Studie „Potenziale von vegetarischen Wurstwaren“ (2015), dass 39 Prozent der Flexitarier und 73 Prozent der Vegetarier offen für das Probieren vegetarischer Wurstalternativen sind. Auch wenn es sein kann, dass die Anzahl der konsequenten Veganer langfristig stabil bleibt, so wird sicherlich der Anteil an Flexi-Veganern und Flexitariern deutlich ansteigen.

Marktpotenziale von Veganismus

Und welche Konsequenzen hat dieser anhaltende Trend langfristig für die Industrie? Die bewusste Entscheidung gegen den Konsum tierischer Produkte wird zunehmen. Mit diesem Bewusstsein wird auch die Nachfrage nach veganen Produkten weiter wachsen. Veganer, Vegetarier, Flexitarier, bei jedem dieser Ernährungstypen handelt es sich um ein überwiegend junges und mittelaltes Publikum mit akademischem Hintergrund, das sich über Ernährung und Gesundheit von Überproduktion und gesellschaftlichen Krankheiten wie Übergewicht und Diabetes abzugrenzen versucht. Man möchte wissen, wo das Essen herkommt und verzichtet lieber auf den täglichen Konsum von Fleisch (im Fall der Flexitarier) um gelegentlich ein hochwertiges Produkt vom Bio-Metzger oder direkt vom Bauern genießen zu können.

Vegane Ernährung impliziert jedoch häufig einen hohen Rechercheaufwand, welche Produkte denn nun gegessen werden können. Diesem Argument kann man mit Transparenz in Produktion und veganen Gütesiegeln begegnen. Gleich ob Wurst-, Pharma- oder Süßwaren-Hersteller, in diesem Trend steckt großes Potential: Das Angebot an veganen Produkten ist noch nicht erschöpfend und die Zielgruppe kaufkräftig. Vor allem an veganen Imbissen, Medikamenten, Kuchen und Eis mangelt es aus Sicht der Veganer noch, wie unsere Studie „Wer will‘s schon vegan?“ (YouGov, 2014) belegt.

In der Kommunikation sollte jedoch nicht ausschließlich auf die Ansprache der Veganer gesetzt werden, auch Flexitarier erkaufen sich gerne von Zeit zu Zeit ein „Stückchen“ gutes Gewissen, vor allem wenn damit auch noch Genuss verbunden wird. Wenn man schon etwas Gutes für Umwelt, Tierwohl und Gesundheit tut, dann darf dies nicht von Askese und Verzicht begleitet sein. Der Genuss und die neue Nahrungsvielfalt sind Grundvoraussetzung für das Gelingen des veganen Vorhabens – unabhängig davon, ob man sich selbst als Veganer, Flexi-Veganer, Vegetarier oder Flexitarier sieht. Diese Vielfalt zu schaffen liegt nun in der Hand der Industrie.


[1] Statista (2015). http://de.statista.com/statistik/daten/studie/261627/umfrage/anteil-von-vegetariern-und-veganern-an-der-bevoelkerung-ausgewaehlter-laender-weltweit/

[2] YouGov Deutschland AG (2014). Wer will‘s schon vegan?

[3] https://superveganer.de/2014/11/07/religion-und-lifestyle-quo-vadis-veganismus/